Schwangerschaft und Osteopathie

Lieber Leser,

als ich damit begann Schwangere zu behandeln, stand ich vor einem verblüffenden Phänomen: Sämtliche mich konsultierenden Frauen stammten aus Frankreich oder England. Im Spaß äußerte ich einmal vor einer werdenden Mutter meine Vermutung, dass in Deutschland nur Französinnen Kinder bekämen. Wir lachten und die junge Frau entgegnete, es liege wohl eher daran, dass es dort wo sie herkomme normal ist, sich bereits während der Schwangerschaft jemanden zu suchen, der diese Zeit osteopathisch begleitet. Das klang natürlich sehr einleuchtend.

Mittlerweile sind doch einige Jahre vergangen und der Trend diesbezüglich hat sich stark geändert. So suchen Frauen in der Schwangerschaft immer häufiger osteopathisch tätige Heilpraktiker auf, dies aus ganz unterschiedlichen Gründen.

Von ärztlicher Seite wird an dieser Stelle oft moniert, dass Schwangerschaft ja keine Krankheit sei, die behandelt werden müsse. Nein, Schwangerschaft ist tatsächlich keine Krankheit. Aber ist das ein Ratschlag für eine Frau, der die Schwangerschaft von allerhand Beschwerden verleidet wird?

Um diesbezüglich einen anderen Blickwinkel einzunehmen, sollten wir uns zwei Dinge vor Augen führen.

1. Was passiert während der Schwangerschaft im Körper?

2. Was ist der osteopathische Gedanke hinter der Arbeit mit Schwangeren?

Die Schwangerschaft ist eine Zeit, in der es zu unglaublich vielen und tiefgreifenden Veränderungen im Organismus der Schwangeren kommt. Das Herz Kreislaufsystem hat es zunehmend mit einer stetig wachsenden Zunahme des Blutvolumens zu tun, es kommt zu Druckveränderungen zwischen Bauch- und Brustraum und zum Hochstand des Zwerchfells. Darüber hinaus steigt das Körpergewicht im Durchschnitt um 9-16kg, es kommt zu Veränderungen der Hautpigmentierung, Gefäßveränderungen, Bindegewebsauflockerungen, zu hormonellen Umstellungen und, nicht zu vergessen, zu Veränderungen der gesamten Körperstatik.

Die Liste von Veränderung ist sicherlich lange nicht vollständig, doch würde deren komplette Darstellung den Rahmen dieses Blogs sprengen. Allerdings ist es an dieser Stelle auch nicht nötig, alles aufzuzählen. Stattdessen versuchen wir der Verständlichkeit halber, an dieser Stelle das Thema auf einen Gedanken zu reduzieren: Was passiert im Körper während der Schwangerschaft? Veränderung!

Wie vielleicht einige von Ihnen am eigenen Leib und in anderen Situationen erfahren haben, sind Zeiten des Umbruchs und der Veränderung meist sehr anstrengend. Paul Watzlawick meinte dazu, dass der Mensch dazu neige, immer mehr vom Selben zuwiederholen, weil er Angst vor einem neuen Schritt habe, deshalb immer auf bewährte Muster zurückgreife. Entwicklung und Veränderung haben aber immer mit einem neuen Schritt zu tun, mit Veränderung, mit dem Schritt ins Ungewisse, der möglicherweise mit Unsicherheit oder sogar mit Angst behaftet ist. Im körperlichen und auf die Schwangerschaft bezogen ist das ganz ähnlich. Der Organismus der Schwangeren sieht sich in sehr kurzer Zeit mit sehr vielen Veränderungen konfrontiert. Vieles funktioniert plötzlich anders und wird vielleicht vorübergehend sogar ein Stück weit fremd. Man muss sich erst daran anpassen, sich neu organisieren, wieder mehr zu seiner Balance zurückfinden. So betrachtet befinden wir uns aber noch immer im Rahmen des Normalen. Diese Veränderungen sind nicht Ausdruck einer Krankheit, sondern der Umstellung des Organismus um den veränderten Anforderungen gerecht zu werden.

Alles gut soweit. Doch was, wenn man die Rechnung ohne den Wirt macht? Sicherlich ist uns allen klar, dass erfolgreiche Anpassung mit der Fähigkeit zur Anpassung einhergeht. Erhält ein Prozess nicht die benötigte Freiheit oder die nötigen Ressourcen, kann er sich nicht entfalten und führt zu Kompensationen. Kompensationen sind im Gedanke der Osteopathie immer einer Einschränkung der Gesamtkapazität. Sie sind Kompromisse, die sowohl eine Störung, als auch die momentan beste Lösung für eine aktuelle Situation darstellen. Kompensationen können stumm sein, sie müssen nicht unbedingt Probleme machen. Probleme machen sie jedoch gerne dann, wenn sie heftig genug sind, oder wenn sich mehrere Kompensationen verschiedener Regionen aufeinander aufsummieren. Das kennt man als den berühmten Funken im Pulverfass.

Gab es vor der Schwangerschaft vielleicht schon stumme Probleme, die nun mit den Anforderungen dieser vielen Veränderungen nicht schritthalten können? Die jetzt, in dieser umfassenden Veränderungsphase, notwendige Ressourcen binden?

In der Osteopathie gibt es viele Thesen und Gedanken auf diesem Gebiet. So ist es auch logisch für osteopathische Therapeuten, sich mit dem Gebiet Schwangerschaft zu befassen. Zentralster Ansatz dabei ist, der Anatomie und der Physiologie der Frau zu einer besseren, freieren Funktion und Organisation zu verhelfen. Ziel ist es, dem Menschen über die Struktur zu einer besseren Funktion verhelfen. Wenn die anatomischen Strukturen frei sind, kann der Körper sich auch besser an Veränderungen anpassen, was sich im Weiteren auf die Qualität der Funktionen auswirken kann. Durch die Anwendung entspannender Techniken sollen unter anderem Muskeln mobilisiert werden und deren Durchblutung beeinflusst, sowie Schlüsselpunkte so befreit werden, dass sich die auftretenden Kräfte günstiger zueinander verhalten und sich physiologischer im Körper verteilen können. Es gilt die Ressourcen zu verbessern, indem die Koordination und die Kommunikation zwischen den einzelnen Teilen des Körpers optimiert wird.

In diesem Sinne: Einen wundervollen Tag Ihnen,

Ihr Kai Schabel